"Marito carissimo…"
Viel ist schon über die Bündner Zuckerbäcker geschrieben und gesagt worden, aber wenig ist bekannt über die Frauenfiguren in diesen Geschichten. Wer weiss, wie das Leben von Anna Redolfi aus Coltura war, die allein für sich und ihre kleine Tochter sorgen musste, während ihr Mann Agostino in Bergamo tätig war. In einigen Fällen reisten die Ehefrauen der Zuckerbäcker mit ihren Männern durch Europa und entdeckten neue Orte und Geschmäcker. Andere blieben jedoch in der Heimat, wo sie manchmal, gerade in der Abwesenheit ihrer Männer, eine neue Unabhängigkeit fanden. So begannen viele Frauen, den Familienbesitz zu verwalten, zu schreiben und zu rechnen, und übernahmen Aufgaben in der Gemeinschaft, die bis dahin ausschließlich den Männern vorbehalten waren.
Über Anna ist wenig bekannt. Aus einem Brief an ihren Mann erfahren wir, dass sie bei guter Gesundheit war, sich um den Zustand ihres Vaters sorgte und hoffte, ihren Geliebten im Frühjahr wiederzusehen. Trotz der wenigen Einzelheiten und der 275 Jahre, die uns von ihr trennen, scheint sie mit diesem, von der Zeit vergilbten Brief, vor unseren Augen wieder lebendig zu werden.
Man kann sich Anna vorstellen, wie sie am 27. Februar 1750 in der Bergeller Stube am Kamin sitzt, das Knistern der Flammen vermischt sich mit dem Kratzen der Feder auf dem Papier. „Marito carissimo" begann sie, vielleicht mit einem Blick auf die Schneeflocken, die im Winter fielen. Und wer weiss, vielleicht sah Agostino auf der anderen Seite der Orobischen Alpen den gleichen Schnee fallen.