Beschreibung
Älteste figürlich bemalte, fast vollständig erhaltene Holzdecke der abendländischen Kunst.
Mutterkirche des Schams, Rheinwald und Avers, um 840 erwähnt, 940 von Kaiser Otto I. dem Bistum Chur geschenkt, 1357 dem Domkapitel einverleibt; Reformation 1530-35. Grabungen haben 1938-40 eine frühchristliche, auf römischer Kulturschicht gelegene Kirche nachgewiesen, die um 500 wohl durch den Ausbau eines profanen Gebäudes entstanden war; ihre eingeschriebene Exedra wurde um 800 abgetragen und durch eine karolingische Ostpartie mit drei hufeisenförmigen Apsiden im «churrätischen Schema» ersetzt. Vom romanischen Neubau um 1110 in Quaderwerk sind das Schiff und der Südturm erhalten, der kleine Rechteckchor musste 1509 einem spätgotischen Polygonalchor von Andreas Bühler weichen. Neuer Dachstuhl 1547, ersetzt anlässlich der Gesamtrestaurierung 1938-40; letzte Restaurierung 1972.
Äusseres. Langrechteckiges Schiff und leicht eingezogener Chor mit grossen Masswerkfenstern; der südseitig angebaute schlanke Turm durch Blenden mit Rundbogenfriesen gegliedert; gebrochener Spitzhelm 1677 von Peter Zurr. Von den romanischen Langhausfenstern sind die beiden Oculi in der Giebelfront und dasjenige über dem Südeingang original, während das Rundbogenfenster in der Giebelfront und zwei weitere in der Südwand nach Baubefund rekonstruiert, aber zur besseren Belichtung vergrössert wurden; die nördliche Langseite ist nicht befenstert. An der Westfront kolossales Christophorusbild Mitte des 14. Jahrhunderts vom Waltensburger Meister, konserviert 1995.
Inneres. Das romanische Schiff und der spätgotische Chor sind durch einen spitzen Chorbogen geschieden, dessen Überschneidung durch die Schiffsdecke vermuten lässt, dass 1509 auch ein Neubau des Langhauses geplant war; seitlich des Chorbogens vermauerte romanische Rundbogenfensterchen. Im lichtdurchfluteten Chor tragen halbrunde Dienste ein zweijochiges Sterngewölbe mit den Monogrammen Christi und Mariä an den beiden Schlusssteinen; in den östlichen Gewölbekappen Signatur des Baumeisters Andreas Bühler 1509 und Wappen des damaligen Pfarrers Sebastian Castelmur, am Chorschluss Wappen des Bistums Chur und des Oberen Bundes. Spätgotisches Wandtabernakel mit Blendmasswerk.
Im Schiff einzigartige romanische Bilderdecke kurz nach 1114 (Dendrodaten), bestehend aus insgesamt 153 ornamental gerahmten, buntbemalten Einzelfeldern; restauriert 1939-40, gleichzeitig von Erwin Poeschel neu zusammengefügt; gesichert 1971-72, 1994 und 2003/04.
Die Deckenkomposition folgt drei Ordnungen: Die streifenweise von Osten nach Westen zu lesenden 105 Binnenfelder schildern die Heilsgeschichte des Neuen Testaments, der sich in der letzten Reihe Szenen aus dem Leben des Kirchenpatrons St. Martin anschliessen. Die Innenfläche wird von einem Rahmenfries mit Meereshintergrund umgeben, der mit Fabelwesen und Meerungeheuern bevölkert ist, dazwischen eingeschoben drei szenische Tafeln, eine Schifffahrt, ein Fischzug und eine nicht näher erkennbare Schiffszene. In allen vier Ecken müssen sich hornblasende Engel befunden haben. Über die Gesamtkomposition ist ein aus doppelten Ornamentleisten gebildetes Kreuz gelegt, das die Decke in vier gleich grosse Rechtecke gliedert.
Das Konzept der Decke folgt der Anlage einer mittelalterlichen Weltkarte. Der grafische Stil der Bilder und die Typisierung erinneren an zeitgenössische Buchmalerei in Bayern und Oberitalien. Die Decke wurde aber wohl von Einheimischen geschaffen. Es sind zwei Hände zu unterscheiden, offensichtlich ein Hauptmeister und ein Geselle, letzterer erkennbar an der zaghafteren, flaueren Strichführung.
Der Decke entlang gemalter romanischer Wandfries mit Mäanderband und Sibyllenbüsten. Unter dem Sakramentshäuschen im Chor romanischer Taufstein mit kugeliger Schale des 12. Jahrhunderts; Polygonkanzel 1647, an der Westwand einfaches Gestühl um 1730. Orgel 1974.
Schema der Bilderdecke:
Die heutige Reihenfolge der Bilder entspricht der Anordnung Erwin Poeschels, die eine sorgfältige Rekonstruktion, nicht aber den Originalzustand darstellt.
1-48 Die Randbilder (davon 13 neu: 22-25, 27-31, 33-36). Die äusseren Reihen, der Wand entlang angeordnet. In den vier Eckfeldern Engel mit Tuben (1, 9, 25, 33), nach Poeschel Personifikationen der vier Winde, gemäss jüngerer Meinung apokalyptische Engel, die den Anfang des Jüngsten Gerichts verkünden und an den vier Weltecken die Winde zurückhalten. Dazwischen auf durchgehender Wellenzone Meermonster und Fabelwesen mit Fischschwänzen, von Poeschal als Sinnbilder des Chaos interpretiert, entsprechend seiner Bestimmungen der Randfelder als Zone der Bedrohung; die dazwischen eingefügten drei Fischerszenen (10, 11, 12) sind gemäss Poeschel als Illustrationen zur Jonasgeschichte sowie als Andeutung der Errettung der Getauften zu verstehen, die den bösen Zirkel der Untiere durchbrechen und den Sinn des Betrachters auf den Gedankeninhalt des Hauptzyklus, das Evangelium, vorbereiten. Poeschels wertender Polarisierung von innerer und äusserer Ordnung steht eine andere mögliche Interpretation gegenüber, wonach die Randbilder - analog der «terra incognita» auf mittelalterliche Weltkarten - das unbekannte heidnische Gebiet am Rande der Welt, die Innenfelder gleichsam das bekannte Festland darstellen.
Der innere Zyklus (49-153). Zeilenmässig von links nach rechts zu lesen.
49-55. Die thronende Könige mit Beschneidungsmessern (49-51), nach Poeschel die alttestamentlichen Vorfahren Christi David, Salomon und Rehabeam; zwei Frauenfiguren (52, 53), nach Poeschel Synagoge und Ecclesia, nach jüngerer Meinung Assistenzfiguren der anschliessenden Verkündigung an Maria (54, 55).
56-62. Josephs Traum mit Engel (56, 57), Heimsuchungsgruppe Maria und Elisabeth (58), Verkündigung an die Hirten (59), Geburt Christi (60-62).
63-69. Ein Engel führt den Zug der heiligen Drei Könige (63-66), Die heiligen Drei Könige vor Herodes mit den drei wartenden Pferden (67-69).
70-76. Die Anbetung des Christuskindes durch die heiligen Drei Könige (70-73), vom Engel wiederum angeführt die heiligen Drei Könige auf dem Heimweg (74-76).
77-83. heilige Drei Könige (77), Mariä Reinigungsopfer (78), Darstellung im Tempel (79), Josephs Traum (80), Flucht nach Ägypten (81-83).
84-90. Die heilige Familie (84), die Schergen erhalten von Herodes den Befehl, die Kinder zu töten (85, 86), der bethlehemische Kindermord (87-90).
91-97. DerJesusknabe belebt die tönernen Vögel (91), der zwölfjährige Jesus im Tempel (92, 93), Johannes predigt in der Wüste (94-97).
98-104. Taufe Christi am Jordan (98), dreifache Versuchung Christi durch den Teufel (99-101), zwei dienende Engel und Christus (102), Hochzeit zu Kana (103, 104).
105-111. Christus und der Hauptmann von Kapernaum (105), Christus heilt Kranke (106), den Besessenen von Gerasa (107, 108), die Kanaaniterin (109), den Krüppel am Teiche Bethesda (110, 111).
112-118. Heilung eines Krüppels (112), Auferweckung des Lazarus (113-115), Christus und die Samariterin (116), Christus lehrt in der Schule von Nazareth (117-118).
119-125. Christus und die Kinder (119), Aussendung der Apostel (120-112), Verklärung: Christus zwischen Moses und Elias, drei Apostel kniend (123-125).
126-132. Einzug in Jerusalem mit Zächäus auf dem Baum und Palmenzweige streuenden Männern (126-130), Tempelreinigung (131, 132).
133-139. Verrat des Judas, Auftrag und Auszahlung (133, 134), Fusswaschung (135), Abendmahl (136, 137), Christus am Ölberg (138, 139).
140-146. Gefangennahme Christi mit Petrus und Malchus, Judaskuss (140-143), Christus vor Pilatus (144), Verspottung und Dornenkrönung (145, 146). - Abbruch der Passion.
147-153. Szenen aus dem Leben des heiligen Martin: der Heilige mit Pferd und Bettler (147, 148), Hilarius weiht St. Martin (149), der heilige Martin erweckt einen Toten (150), der Teufel erscheint dem heiligen Martin in Königsgestalt (151-153).