Beschreibung
Am Anfang steht ein Modell, das der Wirtschaftsprofessor Peter Rieder zusammen mit Vrins Bevölkerung entwickelte. Er studierte den langsamen Untergang der Bergdörfer, sah Vrin und seine 280 Bewohnerinnen und Bewohner als Beispiel und suchte nach Spielraum. Ausserhalb des Tourismus. Rieder und die Vriner glaubten an die jahrhundertealte, ökonomische Basis des Dorfes: die Landwirtschaft. Wie gross muss ein Berglandwirtschaftsbetrieb sein, damit er rentiert? Was muss gebaut werden, damit am Ort auch verarbeitet werden kann, was dort entsteht? Und was ist zu tun, damit es verkauft werden kann? Denn ein Dorf überlebt nur, wenn es exportieren kann. So bauten die Vriner Stück um Stück ihr Modell mit Ställen, einer Ziegenalp, einer Mehrzweckhalle und Hausrenovationen. Eröffneten eine Dorfmetzgerei, die Biofleisch und -würste ins Unterland verkauft; seit kurzem wird das Holz des Gemeindewaldes in einer eigenen Sägerei verarbeitet.
Was ökonomisch vorgedacht und sozial abgestützt ist, übersetzte Gion A. Caminada in Architektur. Sein Können prägt Vrins neues Bild. Einfachheit in Holz heissen die für Vrin typischen Strickbauten, deren Konstruktion er weiterentwickelt hat. Alles in allem realisierte er fünfzehn Neubauten und einen Umbau im Dorf. Alle ruhen auf dem Gedächtnis des bäuerlichen Bauens, alle müssen nicht mehr sein als das, wofür sie gebaut wurden. Dennoch sind auch diese Häuser Zeichen: Die Metzgerei hebt sich auf einem Bruchsteinsockel von den angrenzenden Ställen ab. Im Steinstil schlachtet Linus Tomaschett die Schafe und Rinder, im Holzteil lässt er das Fleisch trocknen. Die Sägerei ist ein schlichter Zweckbau; auch er zeigt, wozu er dasteht: um darin Holz zu sägen. Mehr muss das Gebäude nicht sein, mehr soll es nicht zeigen. Doch die solide Einfachheit kennt auch kecke Ausnahmen: Neben der Postautohaltestelle baute Caminada eine Telefonzelle aus Holz, ein Häuschen, mit dem der Architekt über sich, die Welt und seine Liebe zum Holz lächelt. Und Vrin hat eine Totenkapelle, die keine ist. Sie ist eine Totenstube. Am Rand des Friedhofs, aber nicht innerhalb. Der Unterschied ist wichtig, nur so kann sie aus Holz gestrickt sein wie Vrins Profanbauten. Die Aussenwände bestehen aus einer doppelten Strickkonstruktion. Aussen ist das Holz mit weisser Kaseinfarbe lasiert; diese Farbe rückt den Bau in die Nähe der Kirche und verbindet ihn mit dem steinernen, weiss verputzten Sakralbau. Im Innern schenkt die Behandlung des Holzes mit Schellack dem Haus einen kostbaren Glanz wie den der hölzernen Madonnastatue in der Kirche. Die Totenstube zeigt, dass in Vrin die Uhren nicht stillstehen. Es ist hier wie in der Stadt: Wer von der Erde geht, wird nicht mehr zu Hause aufgebahrt, damit seine Lieben und Bekannten Abschied nehmen können, sondern im Haus am Übergang vom Dorf zum Friedhof.